Menschen, die sich beruflich mit Formeln, Zahlen und Fakten beschäftigen, gelten ja bei vielen als kühl und unemotional. Wenn ich auf einer Party erzähle, dass ich Vorlesungen in Kernphysik besucht habe, dann glauben die Leute sofort, ich würde in meinem Hobbykeller Plutonium anreichern. Das stimmt natürlich, aber was ist daran so schlimm?
Gründe für dieses Imageproblem gibt es viele. In Filmen oder in der Literatur wird der rationale Zahlenmensch seit jeher als gefährlicher Psychopath dargestellt, der sich als Gott aufspielt: Dr. Faustus bei Goethe, Dr. Frankenstein bei Mary Shelly, oder Dr. Brinkmann in der Schwarzwaldklinik. Dabei ist wissenschaftlicher Fortschritt erst einmal nie gut oder schlecht. Es kommt immer auf die Anwendung an. Mit einem Laser kann man eine Pershingrakete steuern oder im CD-Player Helene Fischer hören. Was ist schlimmer?
Bedauerlicherweise ignorieren viele Menschen, dass es gerade rationale Denker waren, die uns ein angenehmes Leben ermöglicht haben: Der Ottomotor, der Kühlschrank oder die Röntgenstrahlen haben unsere Lebensqualität immens verbessert. Ohne die Erfindung der Glühbirne müssten wir sogar heute noch bei Kerzenlicht fernsehen.
Viele Menschen schwärmen von der „guten alten Zeit“. In Wirklichkeit jedoch war die gute alte Zeit kurz, dreckig und grausam. Ein vereiterter Zahn war eine unerträgliche Qual, Kinder wurden durch Rachitis verstümmelt und die Menschen starben wie die Fliegen an Krankheiten, über die wir heute nur lächeln können. Nietzsche ist an Syphilis gestorben. Heute ist Syphilis mit Penicillin problemlos heilbar. Nietzsche wäre zwar inzwischen trotzdem schon tot, aber immerhin.
Wir alle sind Nutznießer von lebensrettenden Maßnahmen, die im letzten Jahrhundert von „unemotionalen“ Rationalisten und Zahlenmenschen entwickelt wurden: sauberes Wasser, Impfungen, Antibiotika, Insulin, Hormone, schmerzstillende Mittel. Dadurch hat sich die Lebenserwartung in kürzester Zeit fast verdoppelt. Vor 100 Jahren gab es so wenig 70-Jährige, weil die meisten 70-Jährigen nicht über 40 wurden. Es gab keine künstlichen Hüftgelenke, keine Betablocker und keine lila Dauerwelle. Die Menschen waren katastrophal ernährt. Fast so schlecht wie heute die Supermodels.
Trotz dieser unglaublichen Erfolge haben die Menschen dahinter einen komischen Ruf. Fortschritt und Technologie werden für die atomare Bedrohung verantwortlich gemacht, für Umweltverschmutzung, ja sogar für die allgemeine Entmenschlichung. Das ist genauso, als würde man Newton für Flugzeugabstürze verurteilen, nur weil er die Theorie der Schwerkraft entwickelt hat.
Auch in der öffentlichen Wahrnehmung nehmen Informatiker, Mathematiker und Naturwissenschaftler eine immer unbedeutendere Nebenrolle ein. Unter den 100 einflussreichsten Intellektuellen in Deutschland sind gerade mal zwei Naturwissenschaftler. Die Diskussion über Leben und Tod, Gut und Böse, Arm und Reich wird in diesem Land hauptsächlich von Journalisten, Schriftstellern, Theaterleuten oder Theologen geführt. Personengruppen, die Ängste schüren und Dinge verteufeln, von denen sie oft nicht einmal im Ansatz verstehen, was diese bedeuten. Warum glaubt man zum Beispiel, ein katholischer Abt könne zur Stammzellenforschung Profunderes beitragen als ein Molekularbiologe? Etwa, weil sich Mönche durch Zellteilung vermehren?
Noch niemals war der Einfluss von Formeln, Zahlen, Statistiken und Algorithmen auf unser Leben gewaltiger, und doch ist das mathematische Rüstzeug dahinter vielen, selbst gebildeten Menschen, vollkommen fremd.
Doch das eigentlich Frustrierende ist: Die meisten sehen das noch nicht mal als Problem. In intellektuellen Kreisen gilt es zwar als verpönt, nicht zu wissen, worin sich Faust I von Faust II unterscheidet, gleichzeitig brüstet man sich aber damit, keine Ahnung über Binomische Formeln oder Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zu haben. Wenn Sie damit kokettieren, dass Sie Quantenmechanik für eine Fußmassage halten, gelten Sie im deutschen Bildungsbürgertum als cooler Typ. Vor einigen Jahren schrieb der Literaturprofessor Dietrich Schwanitz in seinem Besteller Bildung: „Naturwissenschaftlich-mathematische Kenntnisse werden zwar in der Schule gelehrt; sie tragen auch einiges zum Verständnis der Natur, aber wenig zum Verständnis der Kultur bei. Diese Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht.“
Eine – wie ich finde – sehr arrogante Haltung. Denn wer diese Disziplinen betreibt, lernt nicht nur etwas über Formeln und Zahlen, sondern er lernt, wie die Welt funktioniert, wo Erkenntnisgrenzen sind und er lernt vor allem, was Wissenschaft bedeutet: skeptisch zu sein, kritische Fragen zu stellen, Autoritäten nicht blind zu vertrauen. Ist das etwa keine kulturelle Leistung, Herr Professor?
Absolut treffend! Immer wieder auch selbst erfahren.
Sehr erhellend auch dieser Beitrag aus dem philosophischen Radio WDR mit Frau Prof. Recki: „Schizophrenes Verhältnis zur Technik: http://podcast-ww.wdr.de/medstdp/fsk0/84/845070/wdr5dasphilosophischeradio_2015-10-30_unverzichtbartechnikalskultursendungvom30102015_wdr5.mp3
Sehr geehrter Herr Ebert,
die Aussage des Literaturprofessors Schwanitz „Naturwissenschaftlich-mathematische Kenntnisse werden zwar in der Schule gelehrt; sie tragen auch einiges zum Verständnis der Natur, aber wenig zum Verständnis der Kultur bei. Diese Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht.“ ist nicht nur etwas arrogant, sondern zeigt vielmehr, dass der Herr erschreckend wenig Ahnung von unserer Kultur hat oder ein völlig einseitiges verständnis von Kultur, dass diese irgendwie auf die schönen Künste, vornehmlich wohl seinem eigenen Fach, bechränkt wäre.
Im grunde hochgradig peinlich dieser Satz im Angesicht dessen, dass einer der wesentlichen Merkmale unserer Kultur eben gerade diese naturwissenschaftlich-technische Ausrichtung ist.Um es plakativ zu sagen: auf den Einfluss eines gerhard hauptmanns auf unsere Kultur können wir zur No verzichten, auf den eines Fritz habers mit seiner Ammonikasynthese nicht. Und der Einfluss eines Charles darwin auf unsere Kultur bewegt sich shcon in anderen kategorien als der eines Georg Büchners – ja, selbst in der Sparte ‚Literatur‘ ist der Einfluss Darwins bedeutender als der von Georg Büchner. Denn der Einfluss der Naturwissenschaft und Technik auf unser Leben, auf unsere Geschichte, auf die verschiedensten Geistes- (& Kunst-)strömungen, politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen ist seit der Mitte des 19. Jahrhundert derart dominant geworden, dass Naturwissenschaftler zur Rettung der Geisteswissenschaftler sich sogar bemüht sahen. Zum Beispiel wenn der Mediziner und Direktor der Humboldt-Universität Emil du Bois-Raymond vom „Siegeszug des nturwissenschaftlichen Denkens“ warnen zu müssen glaubt, weil „wo sie [die Naturwissenschaft (Anm. U. B.)] ausschließlich herrscht, veramt, wie nicht zu verkennen, leicht der Geist an Ideen, die Phantasie an Bildern, die Seele an Empfindungen […]“ (Du Bois-Raymond, Culturgeschichte, s. 280), Leider ist seitdem dieser Ausspruch, getätigt zu einer Zeit als gerade der sog. ‚Fortschrittsglaube‘ seine Hochblühte hatte, eine Umkehrung eingetroffen und zu viele sog. ‚Bildungsbürger‘ haben schlicht und ergreifend diese Hauptwurzel unserer modernen Welt und unserer Kultur, die naturwissenschaftlich-technische Erkenntins und Methodik, im Angesicht ihrer alltäglichen Dominanz und somit selbstverständlichen Gegebenheit ausgeblendet – Frei nach dem Hegelschen Wort: „Das Bekannte ist deshalb, weil es bekannt ist, unbekannt!“. Man kann gegen diesen Irrsinn mit seinen auch moralischen Folgen nur noch die Neuauflage eines Virchowschen Programms der ‚deutschen Wissenschaften‘ fordern. Durch das Lehren von naturwissenschaftlich-technischen Wissen und Methodiken sollte nach Virchow die allgemeine Volksbildung gehoben werden und der Bevölkerung auf dieser Basis vermittelt werden Probleme rational-logisch und nach wissenschaftlichen Kriterien überprüfbar zu betrachten und zu entsprechend allgemeinen, nachvollziehbaren Urteilen zu führen. Damit sollte dann eine sittlich-moralische Erhebung der Bevölkerung einhergehen, da Virchow glaubte, dass gerade Aberglaube, Nicht-Wissen, unlogisches bzw. irrationales Denken Ursache vieler moralisch-sittlicher Fehlurteile wären. Nun, auf die momentane Situation gewendet, fällt es mir schwer seinem Programm nicht einiges abzugewinnen, trotz der Tatsache, dass dieses über 150 Jahre alt ist. Aber eine Aussage, dass naturwissenschaftlich-technisches Wissen nicht eine der wesentlichen und unabdingbaren Grundlagen unserer Kultur und somit unverzichtbareGrundlage einer fundierten Allgemeinbildung bilden würde, zeigt vor allem, dass derjenige, der dies vertritt, herzlich wenig Ahnung von eben dieser Kultur und eigentlich auch von Bildung besitzt.
Mit freundlichen Grüßen
Ulrich Baare
Helene Fischer ist eindeutig schlimmer.
Aber um auf den kompletten Text einzugehen: Naturwissenschaftliche Grundlagen sind heutzutage tatsächlich fast verpönt.
Aber was erwartet man in einer Gesellschaft, die es kaum wahrnimmt, wenn bestimmte Parteien die naturwissenschaftlichen Grundlagen in der Schule immer stärker beschneidet, nur um mit der eigenen, wissenschaftsfeindlichen Politik auch langfristig erfolgreich sein zu können. Wenn Projekte wie HannoverGen in den Boden gestampft werden, aus Angst der Wähler von morgen könnte gebildet genug sein, um Panikmache von Parteien zu erkennen, wenn sie ihm begegnet.
Na-na-na, fast nett der Text.
„Ohne die Erfindung der Glühbirne müssten wir sogar heute noch bei Kerzenlicht fernsehen.“ – ja klar, was bei Merkel mit Quantensprung geht, geht bei Ebert mit Glühkörper.
Die gute alte Zeit ist NICHT das Mittelalter, das mir gar nicht so kurz vorkommt. Es ist die Zeit vor Computer. Die Zeit in dem Kommunikation zwischen ECHTEN Menschen passierte.
„Nietzsche ist an Syphilis gestorben. Heute ist Syphilis mit Penicillin problemlos heilbar“ – man kann ja auch an Penicillin sterben, die meisten sind dagegen allergisch.
Es tut mir leid, aber vor mehr als 100 Jahren gab es schon künstliche Hüftgelenke. Bitte besser recherchieren.
Die Schwerkraft gab es auch vor Newton.
Die meisten Menschen sollen gegen Penicillin allergisch sein? Wollen Sie mich verkohlen … etwa drei Prozent der Bevölkerung sind gegen Antibiotika allergisch. Und das bezieht sich auf alle Antibiotika.
Das mit der Glühbirne und dem Fernseher ist Ironie!
Mag sein, dass mit gute Alte Zeit nicht das Mittelalter gemeint ist. Aber Penicillin wurde erst vor etwa 70 Jahren entdeckt. Dem Hunger in industrialisierten Ländern wurde erst durch die Haber-Bosch Synthese ein Ende bereitet (bzw. mussten dadurch keine Nahrungsmittel mehr importiert werden). Die ganze morderne Polymerchemie wurde erst im letzen Jahrhundert entwickelt. Mal ehrlich wo wären wir heute ohne Kunststoffe. Es sind ja nicht nur Verpackungen. Es sind Gehäuse von allem möglichen, sie werden für medizinische Anwendungen gebraucht, Reifen bestehen aus ihnen usw. ! Eine moderne Welt ohne Kunststoffe ist kaum denkbar … alles aus der Natur zu gewinnen funktioniert einfach nicht. Dazu der Ausbau des Stromnetzes und die damit einhergehende Elektrisierung der Haushalte. Versuchen Sie mal ohen Strom zu leben. Viel Erfolg!
Sicher konnten die Menschen früher ohne das alles leben, aber die Lebenserwartung war wie Vince beschrieben hat gering und das Leben für die meisten beschissen. Man kann sich noch und nöcher über die Schattenseiten des Fortschritts streiten. Tatsache ist, dass die Gesamtsituation für die Menschen unabhängig von allen Philosophischen Standpunkten heute viel besser als noch vor hundert Jahren ist.